Donnerstag, 23. Februar 2012

Therapie 2 {oder "We make it happen"}



Es war ein schöner Tag. Die Sonne schien am klaren, blauen Himmel und die ersten Vögel trudelten wieder ein.
Ich drücke kurz auf den weißen Klingelknopf. Die Praxis meiner Therapeutin ist in einem gemütlichen Einfamilienhaus. Die Fassade weiß, das Dach blau. Es ist ein schönes Haus mit einem kleinen, aufgeräumten Vorgarten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie in dem Haus auch wohnt, zutrauen würde ich ihr diesen Geschmack.
Ich höre, wie sie den Flur entlangkommt und mir schließlich die Tür öffnet.
„Hallo Maike!“, sagt sie zur Begrüßung mit einem Lächeln im Gesicht, bei dem ich mir nicht sicher bin, ob es echt ist, oder ob sie es bei jedem ihrer Patienten aufsetzt.
„Hallo.“, entgegne ich, im Vergleich zu ihr, sehr viel unfreundlicher.
Sie bittet mich herein und ich häng meine Jacke an der Garderobe auf. Die Regale, die sie in ihrer alten Praxis auf dem Flur zu stehen hatte, verkleiden nun die nackten, weißen Wände des Therapieraums. Sie hat auch das alte Bild wieder aufgehangen. Ich freue mich regelrecht, es wieder zu sehen.
Mit der rechten Hand deutet sie auf die Couch und sie setzt sich in den Sessel. Ich lege mich hin und falte die Hände über dem Bauch zusammen.
„Wie gefällt dir das Wetter heute?“, fragt sie.
„Ganz gut. Ja, es war ein guter Tag.“ Eigentlich sagt man ja, dass man nicht über das Wetter sprechen soll, weil es Desinteresse am Gesprächspartner oder Leere im Gespräch bedeutet. Aber sie beginnt die Stunden oft mit solchen, von der Gesellschaft verhöhnten, Fragen.
„Wie sieht es mit dem Kontakt zu deinem Ex-Freund aus?“, will sie wissen. Erst bin ich mir nicht sicher, was ich antworten soll, aber schließlich sage ich: „Ich habe ihm nicht mehr geschrieben. Ich glaube, es ist wirklich besser so.“
„Das freut mich. Du kannst sehr stolz auf dich sein, Maike.“
Weil mir keine gute Antwort einfällt, flüstere ich eine kurze, wahrscheinlich kaum verständliche Zustimmung.
Ein Moment des Schweigens liegt im Raum. Erst jetzt bemerke ich die Musik, die leise im Hintergrund läuft. Ich mag solche Naturklänge, die mit Musik untermalt sind. Sie beruhigen mich, ich fühle mich frei, wenn ich die Augen schließe. Dann entstehen Landschaften, Farben und Formen auf einer Leinwand, die es gar nicht gibt.
„Maike? Alles in Ordnung?“ Ich werde aus meinem Tagtraum gerissen und nicke mit dem Kopf, immer noch abwesend jeder Gedanken.
„Möchtest du mir sagen, woran du gerade gedacht hast?“, fragt sie mit ihrer weichen Stimme.
„Nichts Besonderes. Wirklich.“ Meine letzten Termine habe ich nicht eingehalten und es tut mir jetzt leid. Ich weiß nicht, ob ich mich entschuldigen soll, aber sie hat mich auch nicht darauf angesprochen. Vielleicht will sie, dass ich die Initiative ergreife? Aber bevor ich vielleicht unangenehme Fragen beantworten muss, auf die ich keine Antworten habe, lasse ich es lieber bleiben.
„Gefällt dir die Musik im Hintergrund?“
„Ja.“, sage ich und setze ein aufrichtiges Lächeln auf. Ich schließe meine Augen und genieße ihre Gegenwart. Einfach nur, dass sie da ist, mich zu nichts zwingt und mein Schweigen anhört.
„Kennen Sie das Gefühl, dass Sie einem Menschen gefallen wollen? Sie wollen, dass er einen liebt und gleichzeitig versucht man eine größtmögliche Distanz zu ihm aufzubauen und ihn zu hassen?“, frage ich sie. Ich klinge kaputt und zerbrochen. Eine Wiederspiegelung meiner ausgelaugten Seele, die nicht mehr kann, nicht mehr weiter weiß. „Kennen Sie das Gefühl von innerer Leere, Trauer und Wut? Die Angst, nicht geliebt zu werden? Kennen Sie das?“ Ich warte einen Moment, doch sie antwortet mir nicht. Vielleicht wird ihr gerade bewusst, dass ich ihr einen Teil meiner Zerstörung preisgegeben habe, aber vielleicht will sie mir auch einfach nicht antworten.
„Schon vor einer ganzen Weile habe ich einen Jungen kennen gelernt. Er ist nett, sympathisch, hübsch, … Er ist anders als die anderen Jungen, die ich kenne. Er wirkt viel erwachsener und ich mag seinen Kleidungsstil. Viele Mädchen würden ihn vielleicht nicht weiter beachten, aber für mich ist er wichtig. Etwas Besonderes. Ich mag ihn. Ich mag ihn sehr. Manchmal weiß ich nicht, ob ich ihn liebe, aber dann rede ich mir wieder ein, dass das nicht sein darf. Ich glaube das funktioniert ganz gut, … bis ich in mich falle und zu ertrinken drohe. Letztens habe ich mich gefragt, was passiert, wenn ich wirklich einmal ertrinke. Ob ich dann sterbe oder in mir gefangen bin? Vielleicht bin ich dann ein stummer Beobachter der Welt.“ Letzterem füge ich ein kurzes Aufflammen eines Lachens hinzu.
„Wissen Sie, ich mag ihn. Ich mag ihn wirklich. Und ich will, dass er mich auch mag. Manchmal sagt er zwar, dass er mich mag und dass es totaler Blödsinn sei, dass ich ihm solche Fragen stelle. Und ich will ihm glauben. Ich will ihm wirklich so gerne glauben, aber manchmal kann ich es einfach nicht. Manchmal ist er abweisend, schaut mich nicht an, verspottet mich, wenn auch nicht öffentlich. Er sagt immer, dass es ihm leid täte und er es nicht ernst gemeint hätte, aber ich kann es oft nicht glauben, obwohl ich es so sehr will… Ich will ihm vertrauen können, denn Vertrauen ist wichtig. Aber ich weiß nicht wie. Ich weiß nicht, wie ich es schaffen kann.“ Ich habe meine Augen immer noch geschlossen und schlucke einmal, bevor ich weiter rede.
„Manchmal ist er aber auch total nett zu mir. Einmal hat er sich so lieb um mich gekümmert, weil es mir nicht gut ging. Er hat sich wirklich bemüht und … ich war so glücklich. Ich war so dankbar und froh, dass er da war.
Er hat mich zu sich nach Hause eingeladen. Er hat mich vom Bus abgeholt und wir haben bei ihm einen Film angeschaut, Witze gemacht und gelacht. Ich glaube, in diesem Moment war ich, ich.
Für ihn habe ich meine Angst vor Hunden überwunden. Ich habe diesen Nachmittag geliebt, weil ich ihn mit ihm verbringen durfte. Danach war ich unendlich traurig, dass der schöne Tag vorbei war. Aber hat gesagt, dass es sicher nicht der einzige schöne Nachmittag gewesen wäre.
Er wollte sich meine Probleme anhören, mir helfen. Aber ich konnte nicht. Ich wusste ja selbst oft nicht, was ich hatte. Aber er wollte mir helfen.
Einmal hat er gesagt, ich würde ihn nie verlieren können. Damals war ich überglücklich über diesen Satz. Heute frage ich mich, ob es wirklich funktionieren kann, denn ich habe immer mehr das Gefühl, dass ich mich von ihm weg lebe. Wir uns auseinander leben. Davor habe ich Angst. Ich will es verhindern, dass er irgendwann einmal nicht mehr da ist. Ich will, dass er bei mir bleibt. Er hat gesagt, dass er weder das Bedürfnis, noch die Möglichkeit habe. Er hat gesagt, er würde es nicht zulassen, dass wir uns auseinander leben und verlieren, weil ich ihm viel zu wichtig wäre. Ich will es ihm glauben, ich will es wirklich und ich weiß, ich kann es… Aber ich kann nicht mehr ohne ihn. Irgendjemand hat einmal gesagt, „Der Mensch liebt das, woran er sich gewöhnt.“ Und wissen Sie, wie wahr diese Aussage ist? Wissen Sie, wie leer einem das Leben vorkommt, wenn nur eine Person, die man liebt, wenn die weg ist? Wahrscheinlich wissen Sie es nicht. Sie haben sich darüber noch nie Gedanken gemacht. Aber alles ist vergänglich…
Ich komme Ihnen bestimmt schwach vor, weil ich so viele Probleme habe und mit ihnen nicht klarkomme. Aber ich habe noch viel mehr. Ich kann sie nicht alle aufzählen, dass schaffe ich nicht. Dann werde ich wieder sensibel und fange an zu weinen. In letzter Zeit weine ich oft. Für den Moment hilft es, aber oft ist es danach nur noch schlimmer. Ich kann mit meinen Gedanken und Gefühlen nicht umgehen. Ich habe Angst vor ihnen.
Ich habe vor vielen Dingen Angst. Vor Hunden, Streit, meinen Gefühlen, Krieg, Krankheiten, der Liebe… Angst, ihn zu verlieren. Vielleicht ist es schon zu spät. Vielleicht reißt der Faden beim nächsten kleinen Problem, vielleicht ist er dann weg…
Manchmal weiß ich nicht, was ich überhaupt will. Auf der einen Seite will ich so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen, auf der anderen Seite bringe ich ihm Abneigung entgegen, damit ich nicht mit meinen Gefühlen kämpfen muss. Ein Kampf, den ich verlieren würde.
Ich weiß nicht, was mit mir los ist, aber manchmal fange ich an zu weinen und weiß nicht einmal warum. Manchmal bin ich überfordert mit mir, mit meiner kleinen Welt und meinem Leben. Manchmal will ich in mir untergehen und meine Angst und alles hinter mir lassen. Einfach ertrinken und nie wieder atmen, weinen und leiden. Einfach ertrinken. Ja, einfach ertrinken.“ Meine Stimme endet in einem leisen Flüstern und ich bin mir nicht sicher, ob sie meine letzten Worte verstanden hat.
Im Hintergrund spielt immer noch die sanfte Musik. Ich höre, wie meine Therapeutin aufsteht und zu mir kommt. Sie hockt sich neben mich und streichelt mit einer Hand langsam und geschmeidig mein Gesicht.
Erst jetzt merke ich, dass ich begonnen habe zu weinen und mein Atem ganz zittrig ist. Und dann flüstert sie „Einige Leute wollen, dass es passiert. Andere wollen, es wäre geschehen. Und Maike, wir machen es geschehen.”


Einem sehr sehr guten Freund gewidmet...

1 Kommentar:

  1. Oh, wow, das ist wirklich ergreifend geschrieben. Ich mag wie du manche Sachen beschreibst, wie das mit dem Ertrinken. Wirklich toll, und es kommt so ehrlich rüber. ;-)

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