Sonntag, 26. Februar 2012

Alles wird gut, meine kleine Prinzessin



Sie schreit. Sie schreit schon den ganzen Abend. Und ich will lernen. Ich muss lernen. Lernen für das verkackte Studium. Bald sind Prüfungen und ich habe keine ruhige Nacht mehr. Und wenn sie hier so weiter schreit, dann raste ich noch aus.
Phil hat sich in sein Zimmer verzogen. Da zockt er sicherlich wieder an seiner Playstation. Diesen Arsch kümmert es nicht, dass ich meine Ruhe brauche. Ihn kümmert es auch nicht, dass er keinen Job hat. Ich bin ja da. Ich werd´ das Kind schon schaukeln. Dieser Arsch. Wenn er sich nicht bald um ´nen Job bemüht, dann kann er gucken wo er wohnt. Bestimmt nicht bei mir. Elendiger Penner.
Sie schreit immer noch. Schon mindestens zwei Stunden am Stück. Sie soll endlich ihre Fresse halten. In mir bäumt sich der innige Wunsch auf, einfach nur noch raus hier. Soll der Arsch doch sehen, wie schwer es ist, sich um ein Baby zu kümmern.
Ich stecke ihr die Flasche in den Mund. Für einen kurzen Moment ist Ruhe, doch statt dass es so bleibt, drückt sie die Flasche aus heraus und macht alles schmutzig. Was für eine Schweinerei.
„Was soll das?“, schreie ich sie an. Sie guckt mich an mit ihren großen Augen und fängt wieder an zu schreien. Wutentbrannt werfe ich eine Decke über ihren Sitz. Sie kann nicht ersticken, nein soll sie auch gar nicht. Sie soll nur aufhören solch einen Lärm zu machen. Und das auf der Stelle! Nur das Monster hört nicht auf zu schreien. Stattdessen wird es lauter, strampelt mit Armen und Beinen.
Sie geht mir auf die Nerven. Ich will, dass sie endlich ihre verfickte Klappe hält. Und wenn es fünf Minuten sind. Nein, lieber gleich ganz bis morgen. Oder noch besser, soll sie ihre verdammte Schnauze halten, bis sie sprechen kann. Wer will schon ein heulendes Kind? Sie sind nur lästig.
Wenn sie nicht von selbst aufhört zu schreien, werde ich nachhelfen. In mir kocht es. Das Fass ist am überlaufen und in mir der Wunsch, etwas zu zerstören. Einfach zuschlagen. Ja zuschlagen.
Ich reiße die Decke vom Kindersitz und zerre an den Gurten. Ich ziehe das Monster heraus und schüttele es. Ich schlage ihr ins Gesicht, immer wieder. Sie schreit nur noch lauter. Aber meine Wut ist stärker. Ich hole noch einmal aus, zweimal, dreimal, viermal, Ruhe. Sie regt sich nicht mehr. Ganz plötzlich ist diese Stille so unheimlich. Wie sie da liegt, dieser kleine Körper. Für einen Moment scheint mein Leben still zu stehen, aber dann geht alles ganz schnell. Ich lege meine kleine Prinzessin vorsichtig in ihren Sitz und renne ins Bad. Ich knalle die Tür zu und drehe den Schlüssel herum. Dann zerre ich mir meine Kleider vom Leib und reiße die Ohrringe ab. An meinen Fingern ist Blut. Wahrscheinlich ist mein Ohrloch eingerissen. Aber das interessiert jetzt nicht und es wird auch morgen oder in einer Woche niemanden interessieren.
Ich reiße das Schubfach meines kleinen Badschranks auf und ziehe mit zittrigen Händen eine neue Rasierklinge aus der Papp-Verpackung. Warum muss dieser Scheiß nur immer so schrecklich verpackt sein? Ich reiße die Plastepackung auf und schmeiße sie auf den Boden. Dann stelle ich mich in die Dusche, lege meine Klinge neben die alte, rostangelaufene auf die Ablage und drehe den Hahn auf. Heiß. Kochend heiß. Eine Welle von unbeschreiblichem Schmerz durchfährt mich. Ich schreie auf. Ich schreie, aber es ist anders als das meiner kleinen Prinzessin.
Es ist ein höllisches Stechen das nicht mehr aufhört. Es durchbohrt meinen verfickten Körper und meine verkackte Seele. Ich nehme die Klinge und steche sie in meinen Unterarm. Ich halte ihn in den heißen Wasserstrahl und schreie, ich schreie wie noch nie zuvor. Es sind Schmerzen, die einen verrückt machen. Aber es ist gut so. Es muss weh tun. Es soll nur weh tun. Ich will nicht sterben, nur leiden. Ja, leiden und Schmerzen haben.
An der Tür hämmert es. Phil, dieser Arsch.
„Mach das Wasser aus! Schalt den Hahn ab, wir können reden!“, schreit er und hämmert an die Tür.
„Du kannst mir nicht helfen du mieses Arschloch!“
„Komm schon! Ich werde dir helfen! Ich verspreche es!“
„Lass mich in Ruhe!“ Der Schmerz ist verschwunden. Meine Beine schlackern und vor meine Augen zieht ein schwarzer Nebel. Jetzt wird alles gut. Alles wird gut. Das Hämmern wird immer leiser und kommt mir so weit entfernt vor, dass ich es nicht mehr wahrnehme. Alles wird gut. Alles wird gut meine kleine Prinzessin.

3 Kommentare:

  1. Die Geschichte ist atmospährisch unglaublich dicht und fesselnd. Du schaffst es innerhalb von so wenig Zeilen unglaublich viel Graumsamkeit und Verzweiflung aufzubauen, sodass man eigentlich gar nicht weiterlesen möchte. Aber der Text zwingt einen dazu, ihn weiterzulesen.! Ich finde den Text und die Thematik irrsinnig gut! Diese Kurzgeschichte spielt definitiv in der Liga von Stephen King!!

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  2. Wow, das ist echt so toll beschrieben, so gut nachvollziehbar als wäre man selbst mittendrin. Toll :)

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  3. Ich wollte nur eben mitteilen, das ich dir einen Blogaward verliehen habe. (Das habe ich auch wegen dieser tollen Geschichte gemacht ;) )
    Achso, der Award gilt auch für deinen Blog regenluft.

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