Freitag, 3. Februar 2012

So ein Gefühl



Ich lief durch den Schnee. Über Nacht hatte er sich kniehoch auf den Straßen, Wiesen und Wegen hingelegt. Als wäre er müde, so lag er da und regte sich nicht. Ich ging ganz langsam, ganz behutsam, als wollte ich ihn nicht wecken.
Ich hatte meine dicken Winterstiefel vom letzten Jahr angezogen. Sie waren nicht mehr sehr schön, da sich weiße Ränder vom Schnee gebildet hatten, aber sie hielten warm. Und hier auf dem Dorf, wer sollte mich sehen? Den Leuten war es eh egal, obwohl ich nicht glaubte, dass sie sich bei solcher Witterung mit Gehstock nach draußen trauten. Außerdem war hier weit und breit nicht ein Haus zu sehen, ich war praktisch allein. Allein, so wie schon lange nicht mehr.
Heute früh hatte ich gedacht, es wäre kälter. Aber es fühlte sich nicht an wie siebzehn Grad unter null. Es war angenehm. Vielleicht lag es auch einfach nur an meiner Bekleidung.
Ich hatte extra meine einzige und geliebte Strumpfhose angezogen. Die mit den grünen Punkten. Ich liebte sie so sehr. Sie erinnerte mich immer wieder an jenen Abend. Es war ein bunter Abend von der Schule ausgerufen worden. Eigentlich hatte ich keine Lust hinzugehen, aber etwas in mir flüsterte mir zu, dass es ein Fehler wäre. Ich trug an jenem Abend ein schwarzes Kleid mit Rüschen, darüber ein leichtes Jackett und meine Strumpfhose mit den grünen Punkten. Man könnte meinen, es würde nicht zusammen passen, aber es sah traumhaft aus. Es sah beinahe so aus, als hätte man es so angeboten, in einer dieser kleinen Boutiquen.
Der Schnee fiel immer noch. Aber nicht mehr so stark. Es waren eher kleine, beinahe winzige Körner, wie ein Staubkrümel so groß. Sie fielen langsam und sacht, ganz gerade.
Ich hatte heute Morgen eine solche Lust empfunden. Ein Verlangen nach Schnee, nach einem Spaziergang, nach der Freiheit und der Kälte des Winters.
Den ganzen Winter lang hatte ich mich gefreut, dass kein Schnee gefallen war. Ich hatte ihn gehasst. Man musste den Schnee vom Hof räumen, man bekam rasch kalte Füße, man fiel und brach sich womöglich noch die Knochen. Ich hatte schon immer etwas gegen den Winter. Vielleicht nicht als kleines Kind, aber spätestens als ich aus dem Alter des Rodelns hinaus war, hasste ich den Schnee.
Bei uns konnte man nie wirklich mit dem Schlitten fahren. Wir hatten keine Berge in der Umgebung. Nur einen kleinen Hügel in unserem Garten und als ich den einmal hinunter gefahren war, bekam ich Ärger von meiner Mama. Sie meinte, ich würde ihre Blumen ruinieren, aber ich verstand nie, welche Blumen ich im Winter kaputt machen sollte. Aber ich hatte sie nie gefragt, weil ich nicht noch mehr Ärger bekommen wollte.
Und dann gab es noch einen anderen kleinen Berg. Allerdings standen um ihn herum einige Bäume. Und in einem Jahr bin ich mit voller Wucht gegen einen dieser Bäume mit meinem Schlitten gefahren. Einen Ast, der genau auf Kopfhöhe hing, hatte ich mir direkt in mein Auge gedrückt. Ich dachte ich würde erblinden, weil ich für einige Minuten nichts mehr auf dem Auge sah. Aber zum Glück war nichts passiert.
Ich stieß den Stiefel in den Schnee, so dass er durch die Luft flog. Ich dachte nicht mehr daran vorsichtig zu sein, damit ich den Schnee nicht weckte. Ich machte es aus dem Gefühl heraus. Weil es mir gefiel. Es sah schön aus, wie der Schnee so sanft und fein wieder zu Boden rieselte.
Durch die grauen trüben Wolken hatte sich die Sonne geschoben. Sie war nicht grell, sie war nur da und sagte mir Guten Morgen. Ich hatte sie nicht kommen sehen, sie war einfach mit einem Mal da, genauso wie mein Lächeln.
Von ferner hörte ich leise das Vogelgezwitscher. Ich schloss die Augen und träumte. Ich träumte von früher, von jetzt, von der Zukunft. Ich träumte, wie ich glücklich bin und lebe. Ich träumte, wie ich all das, was ich liebte um mich herum hatte. Ich träumte wie ich im Schnee tanzte und lachte und sang. Und als ich die Augen öffnete, hatte ich meine Arme ausgebreitet, drehte mich, ließ mich in den Schnee fallen und genoss das Leben.

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