Sonntag, 27. November 2011

Herzversagen



Sie betrat den Raum. Rechts vom Eingang stand ein Tisch mit Zetteln. „Gästeliste“ stand auf ihnen. Stifte lagen auch da. Eine Frau, wahrscheinlich eine Organisatorin, trat hinter den Tisch und lächelte sie an, bis sie hektisch wieder davon lief. Sie schrieb ihren Namen, ihren Vornamen und eine Unterschrift. Alles fein säuberlich, gut lesbar. Sie schob den Zettel zurück auf die Mitte des Tisches und legte den Stift daneben. Dann ging sie zur Garderobe und hing ihren Mantel auf. Draußen war es kalt, für einen Novembertag am ersten Advent, zu kalt. Der Wind fuhr unter jeden Rollladen, wirbelte die letzten Blätter von den Bäumen, sang sein eigenes Lied.
Der Raum war groß. Sie war schon einmal hier gewesen, aber aus einem anderen Anlass. Heute war sie hier, um es sich und allen anderen zu beweisen. Sie wusste, sie konnte es, auch wenn alle sagten, sie könnte nichts, gar nichts.
Sie setzte sich ganz spontan in den linken Stuhlblock in die letzte Reihe. Am Gang, damit sie nicht erst durch die ganze Reihe müsste, wenn sie aufgerufen wurde.
Sie schaute sich um. Der Raum war leer. Nur einige Stühle füllten ihn und die schon anwesenden Gäste. Große Fenster ließen das Sonnenlicht, wenn es da gewesen wäre, hinein und rote, schwere Vorhänge verhüllten die Bühne.
Sie zählte die Stühle. Insgesamt vier Reihen waren für Sponsoren und Presse reserviert. Die restlichen zwölf Reihen für Teilnehmer und Gäste.
Laut ihrer Uhr waren es noch dreizehn Minuten bis zum Beginn der Veranstaltung und langsam aber sicher füllte sich der Raum und die Menschen nahmen ihre Plätze ein. Ein wenig weg von ihr, vielleicht drei Meter, unterhielt sich eine Frau der Jury mit einer Dame von der Presse.
In die Reihe vor sie setzte sich ein Mädchen mit ihrer Mutter, Öko. Sie hatte nichts dagegen, wenn Menschen ihren Stil und ihr Leben so lebten, wie sie es für richtig hielten, aber sich wünschte sich immer wieder, dass man sich doch zumindest zu einem solchen Anlass normal und zivilisiert kleiden könnte. Vergeblich.
Ein anderer Junge, sie hatte ihn schon einmal gesehen, setzte sich in die letzte Reihe vom rechten Block, auch am Gang. Er lächelte sie an, schnell schaute sie weg, verlegen wie sie war. Sie hoffte, nicht rot zu werden und wünschte sich, dass ihr Make-Up das tat, was es versprach.
Auf der Bühne lief ein Mädchen, vielleicht 3 Jahre älter als sie selbst, zu dem Klavier das dort stand, legte sich Noten zurecht und trug einen Stuhl dorthin.
Dann ging es los. Die Veranstaltung wurde eröffnet durch ein Musikstück auf dem Flügel und dann hielten die verschiedensten Leute, in Anzug versteht sich, eine Rede. Manche länger, manche kürzer. Sie hörte nicht sehr aufmerksam zu, bemerkte aber, dass der Bürgermeister anscheinend wichtigeres zu tun hatte, mal wieder.
Ein weiterer musikalischer Beitrag folgte und die Preisverleihung begann. Alterskategorie eins wurde aufgerufen. Ihr Herzschlag erhöhte sich langsam. Bei den kleinen Kindern, die dort aufgerufen wurden, konnte ihr keiner erzählen, die hätten ihre Werke ohne fremde Hilfe erschaffen. Niemals! Ein acht-jähriger kann ganz bestimmt noch kein Gedicht mit perfektem Versmaß und sitzendem Reim schreiben. Und das über siebzehn Strophen! Nein, dass glaubte sie nicht.
Alterskategorie zwei. Der dritte Platz ging an ein Mädchen, dass sie schon einmal auf ihrer Schule gesehen zu haben meinte. Ihr Puls stieg, wurde fast zum andauernden Schlag ohne Pause. Der zweite Platz ging an ein Mädchen das sie nicht kannte, nicht weiter nennenswert und an das Ökomädchen aus der Reihe vor ihr.
Sie wünschte sich so sehr, den ersten Platz zu belegen. Endlich mal allen eins reinwürgen zu können.
Der erste Platz. Der Name wurde genannt, aber war es nicht ihrer. Ihr war es, als setzte ihr Herzschlag aus, Herzversagen. Da war es wie warten auf ein Paket und dann wurde das falsche Oberteil geliefert. Man hatte nichts vom Warten, nichts vom Aufwand und den Mühen.
Sie wollte nur noch raus aus dem Saal. Aber wie würde das aussehen? Einfach gegangen, während der Veranstaltung? Nein, das würde sie nicht machen können.
Die Frau setzte noch einmal an und verlas einen Sonderpreis. Ein Sonderpreis für erwachsenes Schreiben auf höchster Stufe und der kreativsten Idee. Und sie nannte ihren Namen. Ihr Herz fing wieder an zu pochen wie wild und sie erhob sich. Der Boden wankte leicht, so kam es ihr vor und sie ging nach vorn zur Bühne, die Treppe hinauf und stellte sich neben das Mädchen aus der Ökoschule. Ihr Gesicht zeichnete ein Strahlen ab und eine kleine Träne kullerte über ihre rechte Wange.
Da stand sie nun, hatte es geschafft. Natürlich hatte sie es geschafft, sie hatte an sich geglaubt. Und sie war nicht neidisch auf den ersten Platz. Sie hatte es für sich selbst entschieden und gewonnen. Sie hatte gewonnen, für sich. Und nun sollte noch einmal jemand sagen, sie könnte nichts. Sie wüsste es besser.

1 Kommentar:

  1. Bahm, Award. :3
    http://letter-rain.blogspot.com/2011/12/und-alle-mittelfinger-hoch.html

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