Samstag, 26. November 2011

Therapie


Ich betrete den Raum, in dem lediglich ein Sessel und die Couch stehen. An einer Wand hing früher ein Bild, das hat sie aber schon vor meinem letzten Besuch abgenommen. Ich lege mich hin und sie setzt sich, jeder auf seinen Platz.
„Und wie geht es dir heute?“, fragt sie mich. Ihre Stimme ist warm und weich, das liebe ich so an ihr. Vielleicht war es einer der Gründe, warum ich zu ihr und nicht zu einem der anderen Psycholeute gegangen bin.
„Besser denn je.“, fahre ich sie an und im gleichen Moment tut es mir leid.
„So kommen wir nicht weiter, Maike.“
Ich weiche ihrem Blick aus und schaue an die Wand rechts von mir. Die Wand ist kahl, weiß, kalt. Nur wo sonst das Bild hing, scheint ein Abdruck geblieben zu sein.
„Wie geht es deiner Schwester?“, will sie wissen.
„Gut.“
„Und deinen Eltern?“
„Auch.“
„Hast du dich von deinem Freund getrennt?“
Ich hasse dieses Thema. Irgendwann habe ich ihr von meinem Sexleben und meinem Freund erzählt. Ich habe ihr gesagt, dass ich ihn eigentlich gar nicht liebe und ich ihn loswerden will. Auf der anderen Seite darf er aber nicht gehen, weil ich sonst niemanden habe, an dem ich meine Phantasien auslassen könnte. Gemeinsam sind wir dann zu dem Entschluss gekommen, ich sollte mich von ihm trennen. Diesen Entschluss hatten wir schon vor Monaten gefasst, aber ich bringe es einfach nicht übers Herz, ihn zu verlassen. Wir haben gesagt, ich könnte mich anderweitig amüsieren, mir einen neuen Freund suchen, aber ich hatte immer Angst, dass ich nie wieder einen wie ihn bekommen würde.
Nachdem ich ihr keine Antwort gegeben habe, wiederholt sie die Frage, aber ohne Druck, und ich schüttele den Kopf.
„Warum nicht?“, fragt sie.
„Weil es schwerer ist, als Sie denken. Außerdem bringt das nur Nachteile mit sich.“
„Aber du könntest jemanden finden, den du wirklich liebst.“
„Ich glaube nicht.“
 „Du hast es noch nicht einmal in Betracht gezogen, seitdem wir darüber gesprochen haben, oder?“
Ich schüttele den Kopf und eine Träne kullert über meine rechte Wange. Ich denke eigentlich immer, dass die Frau gut für mich wäre. Sie hat studiert, sie weiß was sie macht. Und sie hat auf dem Flur viele Bücher zu stehen, in denen sie mal etwas nachschlagen kann, wenn sie sich unsicher sein sollte. Aber in letzter Zeit glaube ich immer öfter, dass sie mit meiner Situation gar nicht klar kommt. Mich gar nicht versteht.
Sie blättert etwas in einem Hefter. Das wird wohl ihr Notizheft sein, für das, was ich sage und was wir besprochen haben. Es ist dick und rote Trennblätter trennen die Seiten. Vielleicht steht auf ihnen das Datum, vielleicht auch nicht. Auf einer Seite bleibt sie stehen und fährt mit ihrem Finger darüber. Dann klopft sie leicht mit dem Zeigefinger auf eine Stelle und schlägt das Heft wieder zu.
„Weiß deine Familie davon?“
„Nein.“ Ich weiß nicht genau, was sie meint, aber was meine Familie angeht, die weiß eh nichts über mich. Ich halte mich distanziert zu ihnen und bin froh, wenn ich nicht bei ihnen sein muss.
„Wirst du Weihnachten mit ihnen zusammen feiern?“
„Ich weiß nicht. Wenn das Wetter gut ist fahre ich vielleicht mit der Bahn zu ihnen. Wenn nicht, dann rufe ich vielleicht an.“
„Hast du Geschenke für sie?“
„Noch nicht. Aber ich kümmere mich noch drum.“
„Das ist schön.“ Sie lächelt. „Es ist wichtig, den Familienhalt zu haben.“
„Fahren Sie zu Ihren Eltern?“
„Es geht hier nicht um mich.“
Das hasse ich so an ihr. Sie weiß so ziemlich alles über mich und ich weiß nicht einmal, ob sie verheiratet ist. Auf ihrem Schreibtisch steht ein Bild. Ich dachte immer, dass es von einem Kind, von ihrem Kind sein müsste.
„Ich glaube, ich sollte gehen.“, sage ich dann nach einer Weile.
„Du hast noch ein wenig Zeit.“
„Ich muss noch zum Zahnarzt.“, lüge ich und wir beide wissen es.
Sie nickt nur und steht auf. Den Hefter drückt sie an ihre Brust. Ich richte mich auf und warte, dass sie die Tür öffnet und den Flur hinuntergeht. Ich bleibe immer einen guten Meter hinter ihr. Ich nehme meine Jacke vom Haken und frage sie wie jedes Mal „Nächste Woche?“.
„Nächste Woche.“, antwortet sie mir und schenkt mir ein Lächeln.
Ich reiche ihr die Hand und verabschiede mich. Dann trete ich auf den Flur und drücke die Fahrstuhltaste. Im Aufzug denke ich, es war wie immer vergeudete Zeit, aber es war trotzdem entspannend. Sie ist die einzige, der ich das alles erzählen kann und die auch zuhört. Immerhin bezahle ich dafür. Und manchmal denke ich, sie kann mir wirklich helfen.

3 Kommentare:

  1. Ist das eine eigene Erfahrung?

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  2. Traumhafte Schreibweise, wirklich. Gefällt mir. Du bist einer der wenigen, die die Gedanken in der ersten Person ernsthaft und sicher widergeben können.

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  3. Diese Maike könnte ich sein. Haargenau die gleichen Probleme und Gefühle..

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