Es ist Freitag in der Früh. Die Uhr zeigt 5:56 Uhr an. In 4 Minuten wird der Wecker klingeln und Mieke wird aufstehen. Noch liegt sie in einem Traum. Wahrscheinlich in einem Albtraum, sie ist in dieser Nacht sehr oft wach geworden. Ihr Körper in Schweiß gebadet, überall Gänsehaut. Einmal hat sie ganz laut aufgeschrien. So geht das schon seit einigen Nächten, immer wieder quält sie nachts anscheinend das gleiche Leid. Manchmal denkt sie an die Opfer in Japan. Letztens hat sie sogar eine Kerze für sie gekauft und angezündet. Vielleicht träumt sie davon. Solche Ereignisse nehmen sie immer sehr mit.
Als der Wecker klingelt, schreckt sie hoch. Sie schaut sich ganz wild um, wahrscheinlich muss sie sich vergewissern, dass sie nur geträumt hat.
Sie steht auf und tastet sich zum Fenster. Einige helle Strahlen schimmern durch den nicht gänzlich geschlossenen Rollladen. Sie zieht ihn hoch und klappt das Fenster an. Ihr Blick nach draußen ist jeden Morgen gleich. Sie ist traurig, dass sie in einem solchen Getto leben und ihre Tochter in einem solchen Viertel aufwachsen muss. Überall stehen nur riesige Neubauten und die Menschen die hier wohnen, von denen haben viele keine Arbeit. Ihr Umgang miteinander lässt nur zu wünschen übrig und ihre Sprache ist, als wenn sie nie die Schule besucht hätten. Auch viele Leute mit Migrationshintergrund leben hier. Sie bewegen sich, als wenn das gesamte Viertel ihnen gehören würde. Oft zetteln sie Schlägereien an und dann ist die Polizei nicht weit. Einmal wurde Mieke Zeugin einer Prügelei und wurde dann von den Beamten befragt. Nach diesem Vorfall hatte sie wieder einige schlaflose Nächte.
Sie würde ja am liebsten von hier weg ziehen, aber dafür fehlt das Geld. Mit ihrem Minijob als Kassiererin verdient sich nicht sehr viel. Und die Wohnungen die ihr gefallen, kann sie sich nicht leisten. Noch nicht. Schon seit langem, spart sie jeden Monat eine bestimmte Summe, von der sie später ein kleines Haus für sich und ihr Töchterchen Mila kaufen möchte. Aber bis dahin muss sie noch sehr lange arbeiten und ihr Geld zurücklegen.
Die Sonne ist gerade durch einen kleinen Spalt zweier Neubauten erschienen und am Himmel ist kein einziges Wölkchen zu sehen. Auf Miekes Gesicht kommt ein kleines Lächeln zum Vorschein. Sie liebt den Frühling.
Ein Blick auf die Uhr zeigt ihr, dass sie schon elf Minuten am Fenster verbracht hat. Sie ist immer noch ganz müde, wenn sie an die kommende Nacht denkt. Sie wird wahrscheinlich erst nach Hause kommen, wenn die ersten, die am Samstag arbeiten müssen, zu ihrer Arbeitsstelle aufbrechen. Dann, wenn die Sonne schon über den Horizont getreten ist.
Auch, wenn ihr Budget für Kleidung sehr knapp ist, legt sie großen Wert auf die Qualität und Marke. Sie will nicht, dass man an ihrem Aussehen erkennt, woher sie kommt und als was sie tätig ist. Auch das Erscheinungsbild von Mila ist ihr wichtig. Klar, es ist ihre Tochter, aber sie will, dass sie gepflegt aussieht und es ihr nicht so schwer fällt Freunde zu finden. Auch wenn Mila erst 4 Jahre alt ist, Kinder in diesem Alter können schon unterscheiden und erkennen, wer aus guten Familienverhältnissen kommt und wer nicht. Sie will Mila unbedingt eine angenehme Kindheit ermöglichen.
Als Mieke leise in Milas Zimmer tritt muss sie schmunzeln. Ihre Tochter liegt immer noch in den süßesten Träumen. Sie hat nichts von den Ängsten ihrer Mutter mitbekommen. Auch bei Mila zieht sie leise den Rollladen hoch und schaut aus dem Fenster. Milas Zimmer, ist das einzige in der gesamten Wohnung, das keinen Ausblick auf das verbaute und versiffende Getto hat. Es hat ein schönes Panorama auf den Stadtpark. Die Grünanlage wird noch gepflegt und man kann sich in ihr sehr wohl fühlen. Auch gibt es dort einen großen Teich mit einer Brücke. Man kann den Teich von hier aus sehen und im Sommer gehen Mieke und Mila jeden Tag zu ihm. Dann gehen sie auf die Brücke und werfen kleine Brotkrumen für die Enten in den Teich.
Mieke setzt sich zu Mila aufs Bett und streicht ihr über die Wange. Mila setzt ein Lächeln auf und öffnet die Augen. Sie schauen sich beide an und Mieke gibt Mila einen Kuss auf die Stirn. Mila sieht ihrer Mutter sehr ähnlich. Sie hat blaue Augen, blondes Haar, ein schmales Gesicht. Sie ist ein Ebenbild ihrer Mutter.
Mila steht auf und sucht sich aus ihrem Schrank die Kleidung für den bevorstehenden Tag heraus. Mieke bereitet unterdessen den Frühstückstisch vor. Mila kommt angerannt und beide setzen sie sich wortlos hin und essen. Im Hintergrund spielt das Radio. Am liebsten würde Mieke es ja ausschalten, aber Mila hat es gern, wenn die Musik läuft. Mieke würde nie etwas tun, was sie nicht unbedingt tun muss, was Mila traurig machen würde. Milas Welt ist schon so durcheinander, da will sie nicht noch mehr falsch machen.
Mieke bringt Mila zum Kindergarten. Dort kennen sie alle nur als die liebe und nette Mutti, die in ihrer Jugend blind vor Liebe war und sich nun liebevoll um ihre Tochter kümmert und als Kassiererin in einem kleinen Supermarkt arbeitet. Manchmal werden die Leute misstrauisch, wenn sie erfahren, als was sie arbeitet und dann dazu ihr äußeres betrachten. Aber keiner kennt Miekes wahres Leben. Mieke will auch nicht, dass es an die Öffentlichkeit kommt.
Mieke muss sich nun wieder bis Sonntag von Mila verabschieden. Milas einzige Großmutter wird sie wieder abholen und auf sie aufpassen, während Mieke arbeiten muss. Auch Miekes Eltern kennen ihre wahre Geschichte nicht. Ihre Eltern denken, dass sie am Wochenende von der stressigen Woche abschalten will und sich lieber mit Freunden trifft.
Bei ihrem Job als Kassiererin hat Mieke nur sehr wenig zu tun. Sie sitzt einen Großteil ihrer Arbeitszeit nur rum. Das ist ihr eigentlich auch ganz lieb, so kann sie über sich und ihr Leben nachdenken. Manchmal fragt sie sich, warum sie gerade in diesem Jahrhundert leben muss, warum gerade in diesem Augenblick solche schweren Unfälle geschehen müssen. Manchmal hasst sie sich und alles um sich herum, aber dann muss sie wieder daran denken, wie Mila und sie irgendwann in naher Zukunft in einem kleinen Haus leben werden. Das gibt ihr dann die nötigen Kraft, um weiter zu machen.
Am Abend geht sie erneut arbeiten. Sie geht zu ihren Freundinnen, den Leuten die sie verstehen und mögen. Als sie den Laden betritt, leuchten schon alle Lampen und durch das rote, wärmende Licht wirkt der Raum wieder viel wärmer, als er eigentlich ist. Vassar kommt ihr entgegen, sie hat ihr Outfit für den Anfang der kommenden Nacht schon an. Sie lächelt Mieke an und umarmt sie. Sie begrüßen sich und Mieke geht in ihren Raum. In ihrem Raum brennt noch kein Licht aber das ändert sie sofort. Auch ihr Zimmer erstrahlt nun in einem wärmenden rot.
In ihrem Schrank hat sie einige Dessous. Einige hat sie schon viele Nächte getragen, andere sind noch unberührt. Ihr Lieblingsteil hat sie schon seit dem Einstieg in das Business. Er ist rot – so rot wie das Licht, welches hier jeden Winkel in Licht und Farbe taucht – und mit schwarzer Spitze versehen. Mit diesem Dessous hat sie schon hunderte von Euro eingenommen. Sie wird aber zuerst einen anderen tragen. Die Nacht ist noch jung und die Masse der Kundschaft kommt erst später. Das jetzige Model ist auch rot allerdings ohne Spitze.
So langsam treffen sich alle im Eingangsbereich bei der Bar auf den Hockern ein, um die bevorstehende Nacht zu besprechen. Vassar hat gerade ihren letzten Satz beendet, da kommt auch schon der erste Kunde. Mieke kennt ihn. Er war schon oft da, ein paar Mal auch bei ihr. Er stellt kaum Ansprüche und die Bezahlung liegt im guten Mittelfeld. Sie weiß, dass zu dieser Uhrzeit die Leute nur im Stundentakt kommen, und so nimmt sie jeden den sie bekommen kann.
Sie hat Glück, der Mann steuert genau auf sie zu. Sie schenkt ihm ihr schönstes Lächeln und sie spielt ein wenig mit ihm. Dann nimmt sie ihn bei der Hand und führt in ihr Zimmer. Gerade erhascht sie noch einen Blick von Vassar, der ihr sagen soll, sie solle Spaß haben mit ihm. Spaß macht es, na klar. Aber Gefühle hat sie noch nie für ihre Freier aufgebaut. Sie will lediglich einen guten Job erledigen, wie beim Kassieren im Supermarkt.
Sie spielt ein wenig mit ihnen und gibt ihnen das, was sie wollen, weswegen sie hier sind. Manchmal kommt ihr Zweifel auf, ob das was sie da tut richtig ist, aber wer entscheidet zwischen richtig und falsch? Dann muss sie daran denken, wie ihre Zukunft aussehen kann, wenn sie das hier tut. Was sie Mila und sich alles ermöglichen kann.
Und dann hat sie Spaß. Sie blendet alles aus und hat einfach nur Spaß. Sie spielt mit einem fremden Mann und ist alles für ihn was er will. Die Geldscheine in ihrem Dekolleté vermehren sich und sie wird immer glücklicher. Sie kann für eine bestimmte Zeit alles vergessen.
Nach einer langen Nacht, zählt sie das Geld. Das Ergebnis stellt sie zufrieden. Sie zieht sich ihre Alltagskleidung wieder an und bezieht ihr Bett zum wiederholten Mal in dieser Schicht mit einem neuen Bezug. Sie entsorgt den Müllbeutel und schaltet das wärmende rote Licht aus.
Zu Hause geht sie duschen. Das Gefühl, etwas Schmutziges getan zu haben, hat sie schon lange nicht mehr. Sie hat gelernt, ihren Job als alltäglich anzusehen. Nach dieser langen Nacht versucht sie nun Schlaf zu finden. Wieder quälen sie schlimme Albträume. Aber das alles macht ihr nichts aus, denn sie weiß, dass sie ihrem Traum, Mila und sich selbst auf eine normale Zukunft zu ermöglichen wieder ein Stück näher gekommen ist. Das macht sie wieder ein bisschen glücklicher. Jedoch, wird sie sich noch einige Male mehr verkaufen müssen, um diesen Traum zu verwirklichen. Aber mit den Gedanken, auf das Ziel gerichtet, kann sie das alles überstehen. Denn mit jedem Tag im Supermarkt und jeder Nacht im Bordell kommt sie diesem Ziel immer näher.
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