Sonntag, 13. November 2011

Bleistiftstriche


Sie zieht einige wage Striche über den Bogen. Der Bleistift ist spitz und das Papier heller als der Mond in einer klaren Nacht. Sie schließt ihre Augen, als wollte sie einnicken, und führt ihre Hand mit dem Stift durch die Luft, bewegt sie rhythmisch zu der Musik und scheint wage Formen in die Luft zu malen. Sie öffnet die Augen wieder und zieht die Hand schnell an den Körper, als wäre es ihr unangenehm, beinahe peinlich.
Sie zieht weitere Linien die keinen Sinn erscheinen zu geben. Sie liegen quer durch einander, haben keine Verbindung. Man könnte meinen, diese Striche verkörpern ihr Leben. Es zieht auch Striche, Linien, Bahnen, ohne einen Zusammenhang. Es geschieht alles, ohne dass man sagen kann, es passiert, weil es muss. Wer kennt das nicht? Den einen Tag ist man gut gelaunt, man freut sich auf das Leben, die Freunde, selbst die Menschen, die man nicht mag. Denen man jeden Tag aufs Neue den Hals umdrehen könnte. Man könnte Bäume ausreißen und mit den Freunden etwas trinken gehen. Geschichten über das Leben erzählen und tanzen und singen, auch wenn man das sonst nie machen würde. Raus aus der vertrauten Heimat, in eine große fremde Stadt, in der niemand einen kennt. Wo man sich auf einen Platz stellt, die Arme ausbreitet und sich dreht, bis man vor Schwindel fast den Halt verliert.
Und dann gibt es Tage, an denen man lieber niemanden sehen will, mit keinem reden möchte. Man versteckt sich und hofft auf ein Ende. Man mag keine Musik hören, vielleicht ein Buch mit tragischem Ende, dass sich dem eigenem Leben anpasst. Ein schlechter Film, den man schon tausend Mal gesehen hat und ihn doch immer wieder schaut, weil man den einen Schauspieler so sehr liebt, oder das eine Lied am Ende in Endlosschleife hören könnte.
Aber solche Tage vergehen. Sie nehmen ein Ende und ein besserer Tag beginnt, an dem wir die Welt umreisen möchten.
Die wagen Striche nehmen Gestalt an, bekommen Verbindungen. Denn alles im Leben hat einen Sinn. Sei es die geliebte vergangene Kindheit, die uns gelehrt hat, den heißen Herd nicht als Spielplatz zu nutzen, oder die neue DVD, die wieder schlecht war und uns damit sagen wollte, wir sollten uns vorher über den Film informieren. Wir ziehen Lehren und Schlüsse aus Manchem und manchmal begehen wir den gleichen Fehler noch einmal um uns selbst davon zu überzeugen, dass wir es lassen sollten.
Auf dem Papier ist ein junges Mädchen entstanden. Sie trägt eine gepunktete Strumpfhose, durch die die Haut des Beins leicht durchschimmert. Sie trägt ein schwarzes Kleid, das am Saum mehrfach geschlagen ist und eine Handbreit über dem Knie endet. Es hat keine Träger und am Brustsaum sind kleine spielerisch verzierte Blumen angebracht. Das Mädchen lächelt, hat ihre Augen geschlossen und die Arme leicht ausgestreckt, wobei ihre Ellenbogen einen kleinen Knick machen und die Hände geschmeidig nach unten fallen. Sie sieht glücklich aus. Vielleicht denkt sie auch, dass ihr Leben keinen Sinn macht, aber das macht es, denn sonst würde sie sich dort nicht drehen, vor den Leuten die sie liebt, die sie neu kennenlernen und er, sie neu zu lieben.
Man kann in jedem Leben Verbindungen sehen, man muss nur aufschauen, die Augen öffnen und das Leben genießen. Fehler begehen, um daraus zu lernen. Und den Bleistift neu anspitzen, um weiter zu malen.

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